Literarisches Schreiben
„Kluge Diagnosen einer Psychologin: Ruth Wittig überzeugt mit dem Erzählband „Camouflage“ als subtile Beobachterin unscheinbarer menschlicher Dramen.“
— Alexander Sury, Der Bund
“Nach ihrem Erstling, dem Erzählband „Camouflage“ von 2014, ist Ruth Wittig mit „Zu dritt“ ein Meisterstück gelungen. Der Roman überzeugt nicht nur durch die psychologische Feinzeichnung der Figuren, sondern auch durch Qualitäten eines Gesellschaftsromans und das Gespür für historische Zusammenhänge.“
— Daniel Rothenbühler, vollständige Rezension hier
Seit den 1990er Jahren spielt das literarische Schreiben eine wichtige Rolle in meinem Leben. 2014 konnte ich den Erzählband „Camouflage“ im Paulusverlag Freiburg veröffentlichen. Meine Schreibsprache ist deutsch. Zwei Geschichten aus „Camouflage“ wurden von einer Kollegin ins Französische übersetzt. Im September 2019 erschien mein erster Roman mit dem Titel „Zu dritt“, in dem es um verschiedene Dreieckskonstellationen geht. In drei Teilen, in denen jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, wird die ménage-à-trois als Spiegel der Innenwelt meiner Figuren variiert.
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Leseprobe aus „Zu dritt“
Die Kinder aßen Würstchen und die Erwachsenen aßen Karpfen. Sie hatten gesungen, Gedichte aufgesagt, Geschenke ausgepackt, das Weihnachtspapier wieder glatt gestrichen und die bunten Bänder sorgfältig aufgerollt. Die Kerzen waren gelöscht worden, bevor sie zur Hälfte heruntergebrannt waren. Kein Zimmerbrand, Gott sei Dank. Der Tannenbaum war nur ein ganz klein bisschen schief. Zwischen seinen Zweigen hingen Kugeln in allen Farben, Strohsterne, Lametta und stanniolumhüllte Schokoladefiguren. Sie hießen Knickebein und waren mit Likörcreme gefüllt. Die Mädchen lachten über den Namen und waren ganz versessen darauf, obwohl ihre bunten Teller fast überquollen von Nüssen, Marzipankartoffeln und weiß gepuderten Plätzchen, die schon seit Wochen in Blechdosen in der Speisekammer lagerten. Viktor kaute mit größter Vorsicht auf dem Bissen herum, den er gerade zum Mund geführt hatte. Eine Reihe blasser Gräten zierte seinen Tellerrand wie ein feines grafisches Muster. Hanna lehnte sich im Stuhl zurück und schob die Hand unter den Rockbund, der auf ihren Magen drückte. Sie war im dritten Monat schwanger, ausgerechnet in einem Karpfenjahr! Der Mama hatte sie noch nichts gesagt. Bei der Zubereitung des Fisches war sie vor Ekel und Übelkeit fast umgekippt. In der stickigen Küche stehend, hatte sie den Kartoffeln die Haut abgezogen und versucht, den Geruch auszublenden, während ihre Mutter Kopf und Flossen vom geschuppten Fischleib trennte, geschickt am Grätenstrang entlangschnitt und das Fleisch ablöste. »Schmeckt es dir?«, wandte sich Hanna an ihren Mann. Sie hätte die Frage nicht stellen sollen. Seine verzögerte Reaktionszeit deutete darauf hin, dass die Antwort negativ ausfallen würde. Die Mama schaute nicht auf. Sie bewegte die Kiefer wie ein hoheitsvolles Kamel. Waren Kamele Wiederkäuer? Viktor war verstimmt, weil er Karpfen nicht mochte, und die Mama war verstimmt, weil man auf ihren Speisewunsch Rücksicht genommen hatte. Das war schwer zu verstehen, aber so war es. Alle zwei Jahre hatte die Mama ein Recht auf Karpfen. In den Jahren dazwischen gab es Gänsebraten, wie es in Viktors Familie üblich gewesen war. Hanna stand auf, nahm ein Stück Fisch von der Platte und bot es ihrer Mutter an. »Gib’s dem Viktor«, hustete die Mama. Hanna blickte zu ihrem Mann, er rührte sich nicht. Mit dem Karpfen zwischen Löffel und Gabel blieb sie unschlüssig stehen. Weder nach rechts noch nach links ging es hier weiter. Hanna legte den Fisch zurück auf die Platte und setzte sich wieder hin.
© edition bücherlese Luzern, 2019
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