Ruth Wittig im Interview
Was inspiriert Sie in Ihrer therapeutischen Arbeit?
Im Zentrum meiner Arbeit steht die Begegnung mit einem Menschen in seiner subjektiven Welt, die ich nach und nach verstehen lerne. Das beginnt mit Zuhören, behutsamem Nachfragen und dem Benennen zentraler Themen, Konflikte und Ziele. Das ist der erste Schritt. Der Zweite ist, mit Hilfe meiner Kenntnisse und Erfahrungen einen massgeschneiderten Veränderungsprozess zu gestalten, der der Person hilft, ihre Ziele zu erreichen. Die Basis der Zusammenarbeit ist eine sorgfältige Verständigung darüber, was möglich und wünschenswert ist.
Was sind die methodischen und wissenschaftlichen Grundlagen Ihres Vorgehens?
Meine Arbeit basiert vor allem auf zwei therapeutischen Ansätzen. Die klientzentrierte Gesprächspsychotherapie bzw. deren Weiterentwicklung zur klärungsorientierten Psychotherapie setze ich ein, um die Ziele und Voraussetzungen eines Veränderungswunsches zu klären. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte, schlage Wahrnehmungsübungen vor, um den Fokus zu halten und helfe der Person, jenseits des blossen „Darüberredens“ einen Zugang zu ihrem inneren Erleben zu finden. Zur Zielerreichung schlage ich Methoden und Hilfsmittel vor, die aus dem Repertoire der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Richtung stammen und deren Wirkung wissenschaftlich sehr gut gesichert ist. Dazu gehören Selbstbeobachtungs- und Verhaltensübungen, z.B. Konfrontation mit vermiedenen Situationen, Rollenspiele, Entspannungs- und Aufmerksamkeitstrainings.
Was macht Ihren Stil aus?
Aufmerksamkeit und Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks (auf deutsch und französisch) sind meine wichtigsten Arbeitsinstrumente in der Phase der Problemklärung. Das genaue Benennen von Schwierigkeiten und die Übereinstimmung von Bewusstsein und Sprache sind m.E. die Voraussetzungen für Selbsterkenntnis und Identitätsbildung und helfen, aus eingefahrenen Denk- und Erlebensmustern herauszufinden. Zu meinem Therapiestil gehört aber auch Information bzw. Psychoedukation. Um selbstbestimmt und motiviert zu handeln, muss die Person – ähnlich wie wir als Therapeuten – wissen, was sie tut und mit welcher Zielsetzung sie es tut. Wir engagieren uns also gemeinsam in einem Entwicklungsprozess, der transparent und partnerschaftlich abläuft.
Selbstbestimmung verlangt einen Sinn für das Mögliche, also Einbildungskraft, Phantasie.
- Peter Bieri
Wie wollen wir leben? Residenz Verlag, 2011
Wie gehen Sie bei der Selbsterfahrung vor?
Selbsterfahrung als Teil der psychotherapeutischen Weiterbildung ist zunächst einmal eine Verpflichtung, die nicht unbedingt mit einem persönlichen Leidensdruck oder Veränderungswunsch verknüpft ist. Ich versuche, diesem „Pflichtprogramm“ einen persönlichen Sinn zu geben, indem ich einen Rahmen der Selbsterforschung anbiete. Was interessiert die Person an sich selbst? An ihrer persönlichen Geschichte? Wie erlebt sie sich in ihren verschiedenen Rollen: als Partner, Kind, Elternteil oder im Beruf? Was möchte sie gegebenenfalls verändern? Ein weiterer spannender Punkt ist die gemeinsame Reflexion über das therapeutische Vorgehen. Ich kann ein transparentes Handlungsmodell sein und meine therapeutischen Entscheidungen zur Diskussion stellen. Selbsterfahrung ist aus meiner Sicht eine besondere Form des learning by doing.
Was kann man in der Supervision von Ihnen erwarten?
In der Aus- und Weiterbildung von KollegInnen geht es mir um Ermutigung zum Handeln und die Vermittlung von Anwendungssicherheit. Das genaue Vorgehen hängt von den Bedürfnissen der KandidatInnen und vom Ausbildungsstand ab. Supervision hat sowohl technische als auch persönliche und interaktionelle Aspekte. Dem Planen und Handeln geht eine Modellbildung voraus, bei der wir gemeinsam zu verstehen suchen, welche Faktoren an einer Störung beteiligt sind und welche den Veränderungsprozess begünstigen können. Mein Leitmotiv (in Anlehnung an das Buch eines systemisch orientierten Kollegen): Komplex erfassen, einfach und zielorientiert handeln.
Wie sind Sie zum literarischen Schreiben gekommen?
Das Interesse für Sprache war schon während der Schulzeit da. Bevor ich mich der Psychologie zugewandt habe, habe ich einige Semester Publizistik studiert. Mein eigenes Schreiben habe ich seit Ende der 1990er Jahre entwickelt. Durch Teilnahme an Wettbewerben und Werkstattgesprächen, durch Vernetzung mit AutorInnen und ÜbersetzerInnen und in Zusammenarbeit mit einem Lektoratsdienst, wo man mit erfahrenen Fachleuten die eigenen Texte besprechen kann. 2014 konnte ich den Erzählband „Camouflage“ im Paulusverlag veröffentlichen. Mein erster Roman mit dem Titel „Zu dritt“ erschien im September 2019 bei der „edition bücherlese“.
Die Witterung eines Wortes,
eines Satzes aufnehmen,
die wirklich gesagt sein möchten.
Das hat mit Jagd
zu tun, mit Sehnsucht.
Und es kann lange dauern.- Klaus Merz, Weidwerk.
Die schönsten Gedichte der Schweiz,
Nagel & Kimche, 2002